Im Gegensatz zur Kinoleinwand wurde die Gamingwelt nur mit wenigen guten Geheimagenten gesegnet, denn nach Sam Fisher und Snake kommt erst mal lange nichts. Dies will Obsidian ändern und schickt den eigenen Spion auf Schleichmission.
Es waren immer die Terroristen…
Alpha Protocols Story beginnt vergleichsweise stereotyp: Im Mittleren Osten wird ein Passagierflugzeug von Terroristen vom Himmel geholt – und zwar mit amerikanischen High-Tech-Raketen neuester Bauart. Kurz davor rekrutiert Alpha Protocol, ein Geheimdienst, der so geheim ist, dass nicht mal die US-Regierung davon weiß, einen neuen Agenten mit dem Namen Michael Thorton, in dessen Rolle wir fortan schlüpfen. Nach dem Tutorial geht es gleich weiter nach Saudi-Arabien, um den Kopf der Terroristen zu finden und seine Verbindungen zum Waffenkonzern Halbech aufzuklären, dem die Raketen „verloren gegangen“ sind. Doch ganz so einfach ist die Geschichte leider nicht. Ehe wir es besser wissen, treten einige weitere Geheimdienste und andere Organisationen auf den Plan und die Story wird komplexer, frischer und hält ein paar wirklich überraschende Wendungen parat. Nach den ersten Einsätzen in der Wüste verschlägt es mich nach Rom, Moskau und Taipei, wo alle Missionen in beliebiger Reihenfolge absolviert werden können und ein Hauch von Nichtlinearität weht. Natürlich kann ich auch schön ein Land nach dem anderen abgrasen, aber dann verpasse ich viele Auswirkungen der zahlreichen Entscheidungen, die an jeder Ecke getroffen werden wollen.
Entscheide Dich – und zwar schnell
Am Anfang steht die klassische Charaktererschaffung, die mich nicht nur eine Klasse mit verschiedenen Schwerpunkten wie Soldat, Spion oder Ingenieur wählen lässt, sondern auch mein Aussehen kann ich rudimentär anpassen. Wer sich vom Spiel keine Vorschriften machen lassen will, kann auch einen Rekruten spielen, der komplett ohne Fertigkeiten daher kommt. Dies macht die ersten Missionen ein wenig schwerer, ermöglicht aber eine komplett freie Charaktergestaltung von Anfang an. Es gibt neun verschiedene Fertigkeitsgebiete, die sich in 15 Stufen ausbauen lassen. Die Hälfte davon ist den verschiedenen Waffengattungen vorbehalten, die anderen verstärken verschiedene Spielstile wie Tarnung und Sabotage oder verbessern eure technischen Fähigkeiten. Neben passiven Verbesserungen wie einem Zeitbonus beim Hacken oder mehr Waffenschaden gibt es auch aktive Skills, die die Schadensresistenz kurzzeitig erhöhen, Remote Hacking erlauben oder lautloses Rennen ermöglichen. Für bestimmte erreichte Ziele werden zudem zahlreiche Perks freigeschaltet, die kleine, aber feine Vorteile bringen. Die Palette ist dabei sehr breit gefächert und reicht von den Klassikern der Marke 50 Kopfschüsse mit der Pistole bis zu eher ungewöhnlichen Dingen wie das Durchhalten einer bestimmten Argumentationslinie in Unterhaltungen und dafür, dass man keine Fr
auen tötet oder keine Freunde hat. Im eigentlichen Spiel angekommen gehen die Entscheidungen dank des Dialogsystems gleich weiter. Anstatt eine konkrete Antwort auszusuchen, wähle ich meistens lediglich den Ton der Antwort, wie etwa aggressiv, flapsig oder professionell – und das unter Zeitdruck, denn die Zeit bleibt nicht stehen während einer Unterhaltung. Jede Antwort erzeugt eine Gegenreaktion meines Gesprächspartners und ich steige oder sinke in seinem Ansehen. Verbündete zu haben, hat natürlich seine Vorteile, Feinde zu haben aber auch. Alpha Protocol gibt sich große Mühe, sowohl Antworten als auch die eigenen Handlungen als moralische Grauzone darzustellen, so dass ich nie das Gefühl habe, etwas Richtiges oder etwas Falsches zu tun und somit das tue, was ich persönlich für richtig halte. Beides zieht Konsequenzen nach sich, die teilweise sofort oder erst viele Missionen später sichtbar werden und den Storyverlauf verändern. Jeder Gesprächspartner erfordert, basierend auf seinem Charakter und Arbeitgeber, eine andere Vorgehensweise und teilweise kann ich sie auch gegeneinander ausspielen.
Action mit reichhaltigem Arsenal
Soviel zur Vorbereitung, jetzt geht’s in die Mission. Obwohl im Untertitel des Spiels „Ein Spionage-RPG“ steht, muss ich nicht zwingend auf Sam Fishers Spuren wandeln, sondern kann mir auch einfach eine Schrotflinte nebst laut scheppernder Infanterierüstung schnappen und in bester Shooter-Manier mit rauchenden Rohren durch die Levels pflügen. Da ein ausgelöster Alarm nur im Ausnahmefall zum frühzeitigen Ende einer Mission führt, sondern nur zu aufmerksameren Gegnern und Verstärkungen, funktioniert dieser Ansatz genauso gut wie der Leisetreter-Spion mit nichttödlichen Attacken aus dem Hinterhalt. Obwohl sich die Missionen wie ein Shooter spielen, muss man sich vor Augen halten, dass Alpha Protocol im Kern ein RPG bleibt, daher kann – ähnlich wie bei Fallout 3 – ein perfekt gezielter Kopfschuss durchaus danebengehen, wenn man nur wenig Punkte in die Waffenfertigkeit gesteckt hat. Da es wie bei Splinter Cell kein Licht/Schatten-System gibt, um anzuzeigen wie unauffällig ich gerade bin und ich auch keine Lichtquellen oder Kameras zerschießen darf, ist Schleichen manchmal schwer und nicht entdeckt zu werden noch viel mehr, weil sich manche Sichtlinien nur schwer nachvollziehen lassen, aber dafür gibt es Skills und nach ein wenig Übung weiß man, worauf man achten muss. Schwerer wiegt dagegen, dass Thorton nicht jederzeit springen kann, sondern nur an dafür vorgesehenen Stellen. Das Leveldesign ist auf viele Spielstile abgestimmt. Es gibt immer Stellen, wo es mit einem bestimmten Skill sehr viel einfacher wäre und auch der Patrouillenweg der Wachen lässt sich dank Haftgranaten und Fernzündminen ausnutzen. Für fast alles gibt es ein passendes Gadget, aber nur wenig Platz im Inventar, dessen Größe von der getragenen Panzerung abhängt. Alarm ausgelöst? Ein gefälschter Funkspruch schafft Abhilfe. Codeschloss lässt sich nicht knacken? Eine EMP-Granate übernimmt das für euch. Eine Wache steht im Weg? Ein Geräuschgenerator sorgt für Ablenkung. Auch die Waffen lassen sich auf vielfältige Weise mit diversen Sichthilfen, größeren Magazinen, anderen Läufen und drei Munitionsarten in allen ihren Werten modifizieren. Die Missionen sind abwechslungsreich und nicht in jedem Auftrag muss ich schleichen und schießen, denn es gilt auch Informanten zu treffen oder Aufklärungsarbeit über Verdächtige Personen zu leisten. Zum Beispiel liege ich in einer Mission vor einem großen Anwesen auf der Lauer, wo gerade ein Bankett stattfindet. Mit Hilfe einer Digitalkamera im Zielfernrohr meines Scharfschützengewehrs muss ich mehr über die Gäste herausbekommen – und töten kann ich sie damit auch gleich, wenn ich denn will. Aber auch eine Luxusyacht, Botschaften, Hotels, Museen und ein Verladebahnhof werden besucht.
Der Spion, der mich liebte
Zwischen den Missionen halte ich mich in meinem geheimen Unterschlupf auf. Dort kann ich mir nicht nur das Medienecho meiner letzten Missionen im Fernsehen ansehen, sondern bekomme auch E-Mails von diversen Absendern, die ich teilweise auch beantworten kann. Zudem halten mich meine Informanten auf dem Laufenden, durch Hacking geklaute Daten können auf dem Schwarzmarkt zu Geld gemacht werden und Small Talk ist natürlich auch dabei. Das hart erbeutete Geld kann auf dem Online-Schwarzmarkt in neue Ausrüstung und Intel für kommende Missionen investiert werden. Welche Ausrüstung mir zur Verfügung stehen, wird durch die eigenen Kontakte entschieden. Wer genug Waffendealer zum Freund hat, hat auch ein großes Arsenal zur Auswahl. Wer keine hat, muss sich mit der Grundausstattung zufrieden geben, die je nach Land variiert. Intel erweitert zum einen meine Datenbank, die alle Personen und Organisationen enthält und mir wichtige Informationen zur Ausrüstung und Vorgehensweise der Gegner gibt. Zum anderen erleichtert mir Intel die Mission durch genaue Karten, bestochene Wachen oder lukrative Bonusziele. In der Mission selbst werden nur die Hauptziele angezeigt, Nebenziele müssen selbst gefunden werden und davon gibt es in den meisten Missionen einige. Und zuletzt ist da natürlich noch das schöne Geschlecht. Auf meinen Reisen treffe ich immer wieder auf schöne Frauen, die ich becircen und sogar ins Bett bekommen kann. Die Damen sind natürlich nicht nur Dekoration, sondern spielen alle eine eigene Rolle im Netz der Intrigen, so dass es auch Nachteile haben kann, den Casanova und plappernden Agenten zu spielen.
Angestaubte Grafik mit Problemen
Kommen wir nun zum eher unspaßigen Teil von Alpha Protocol, nämlich der Grafik und den Animationen. Die Unreal Engine (UE) ist nicht mehr die neueste und das zeigt sich hier deutlich. Die Grafik ist immer auf einem durchschnittlichen Niveau, aber in vielen Aspekten einfach nicht mehr zeitgemäß. Und dazu gibt es auch noch zu spät ladende Texturen und ein wenig Tearing, vor allem sichtbar in den Zwischensequenzen. Die Figuren sind aber durchweg gut gelungen und sehen auch wie normale Menschen aus, was bei der Engine ja nicht selbstverständlich ist. Auch der UE-typische Plastik-Look ist glücklicherweise nicht vorhanden. Bei den Animationen hätte Obsidian gerne noch ein bisschen mehr Zeit investieren dürfen. Die geduckte Schleichanimation von Thorton ist noch Geschmackssache, aber wer schnell nur kleine Schritte macht, bekommt gar keine Animation zu sehen. Thorton rutscht nur ein Stück vorwärts ohne sich zu bewegen. Gleiches gilt für Gegner, die wie auf Rollschuhen in eine Deckung rollen, wenn sie knapp daneben stehen. Zudem laufen die Gegner auf Luftkissensohlen, denn ihre Schuhe berühren nie den Boden. Zu wenig Feinschliff heißt hier das Stichwort. Dafür sind Steuerung und Sound auf der Höhe und geben keinen Grund zur Beschwerde. Es gibt zwar nur eine englische und wirklich sehr gut gesprochene Sprachausgabe, aber wenigstens deutsche Untertitel. Ebenfalls positiv ist es, dass bei meinen Durchläufen keine richtigen Bugs aufgetreten sind, lediglich ein paar Texturfehler, auf die man allerdings genau achten muss, um sie nicht zu verpassen. Auch Freezes oder Instabilitäten gab es keine, was bei Obsidian in der Vergangenheit leider kein Standard war.
FAZIT:
Ein herrlich unverbrauchtes Setting mit ansprechend erzählter Story, ein gut durchdachtes Dialog-System, Entscheidungen mit sofortigen und späteren Konsequenzen, ein solider RPG-Unterbau – Alpha Protocol macht vieles richtig, doch wer es so spielen will wie Splinter Cell wird enttäuscht. Wer stets daran denkt, dass er ein RPG spielt und das Kampfsystem dementsprechend nutzt, wird 15 bis 20 Stunden lang Spaß mit Agent Thorton haben, trotz der angestaubten Grafik und den unstimmigen technischen Details. Das Entscheidungssystem verändert die Story teils drastisch, so dass sich ein zweiter Durchgang durchaus lohnt. Wer mehr auf Schleich-Action steht und ein direktes Kampfsystem bevorzugt, sollte sich den Kauf zweimal überlegen.
[Review verfasst von Sanguinis]
Pluspunkte:
- Innovatives Dialog-System und viele Entscheidungen
- Ausrüstung & Leveldesign an viele Spielstile angepasst
- Unverbrauchtes Setting und gut erzählte Story
Minuspunkte:
- Mittelprächtige Grafik
- KI mit seltenen Aussetzern
- Generell fehlt ein wenig Feinschliff